Schweizer Behörden haben Tausende Kinder und Jugendliche verdingt, weggesperrt, sterilisiert, psychiatrisiert und zur Adoption freigegeben. Einer davon: Ernst Stricker.
«Dieses Jahr werde ich 80. Mein Leben lang habe ich nie über meine Jahre als Verdingkind gesprochen. Jetzt aber hat es mir den Nuggi herausgehauen. Es brauchte Überwindung, aber ich schrieb Bundesrätin Simonetta Sommaruga einen Brief: «Sie sind auf Ihrem Posten am Drücker! Lösen Sie also endlich das Problem. Oder wollen Sie so lange warten, bis wir alle gestorben sind?»
Mein Vater war Hilfsarbeiter und oft zu faul zum Arbeiten. Wir waren mausarm. Als ich 1946 in die sechste Klasse kam, musste ich von zu Hause weg. Mit einem kleinen Koffer schickte man mich nach Baar zu einem Bauern. Ich hatte bei ihm genug zu essen und wurde auch nicht geschlagen. Aber meine Eltern fehlten mir. Da nützten die Tränen im Kopfkissen nicht viel.
Viele hatten es schlechter als ich. Aber was musste ich krampfen. An mir sparte der Bauer einen Knecht. Ich erinnere mich gut, wie ich als Zwölfjähriger in glühender Hitze Korn zusammentragen musste. Der Bauer sass derweil im Schatten des Hauses und dengelte seine Sense. Vier Jahre lang sah ich keinen Franken.
Jetzt will man uns mit einem Trinkgeld abspeisen. Das finde ich nicht in Ordnung. Wir alle wurden ausgenutzt und gedemütigt, gelitten haben alle. Ja, mit Geld kann man die verlorene Mutterliebe nicht ersetzen, aber die geleistete Arbeit sollte der Staat den Betroffenen entschädigen.
Seit meinem zwölften Lebensjahr stehe ich auf eigenen Füssen. Ich musste viel einstecken. Das prägt einen fürs Leben. 1955 kam ich nach St. Gallen zur Bahn. Ich hatte das Glück, ohne erlernten Beruf eine Stelle zu finden. Ich arbeitete zuerst im Güterschuppen, später im Rangierdienst und dann in den Stellwerken. Fast 40 Jahre war ich bei der Bahn.»
Opfer von Behördenwillkür sollen entschädigt werden
Verdingt, weggesperrt, vergessen: Die Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels der Schweizer Sozialgeschichte hat zwar begonnen, zwei Bundesrätinnen haben sich öffentlich entschuldigt, ein runder Tisch wurde ins Leben gerufen – doch die Opfer fühlen sich bis heute im Stich gelassen. Jetzt lancieren sie zusammen mit Historikern, einer überparteilichen Politikergruppe und dem Beobachter eine Volksinitiative und fordern eine Wiedergutmachung. Ihr Ziel: Verdingkinder, administrativ Versorgte, Zwangssterilisierte und Zwangsadoptierte sollen für das Leid, das ihnen der Staat angetan hat, finanziell entschädigt werden.
Unterschriftenbögen der Wiedergutmachungsinitiative finden sich hier.
«Zwangsmassnahmen: Die Schuld der Schweiz», Beobachter Nr. 7/2014